Interview mit Karin Schiefer (Austrian Film Commission), Dezember 2000
"Jüngere Geschichte wird zwar fast schon inflationär bearbeitet, oft jedoch nicht wirklich in die Tiefe gehend. Das Thema Spiegelgrund ist für mich so ein Paradebeispiel für den Umgang mit Betroffenen nach 1945."
Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber über Spiegelgrund
Im öffentlichen Bewusstsein ist der Spiegelgrund ja nicht gerade sehr präsent. Wie kamen Sie auf das Thema?
Angelika Schuster: Der Spiegelgrund war sehr wohl durch den Prozess, den Heinrich Gross Ende der siebziger Jahre gegen Werner Vogt anstrengte, in den Medien vorhanden.
Es war mir aber ein Rätsel, dass unser Film Spiegelgrund und der Gross-Prozess solchen Staub aufwirbelten, denn eigentlich ist das schon so lang bekannt. Alle fünf Jahre wird immer so getan, als sei es etwas Neues. Dieses Thema muss offensichtlich immer wieder neu entdeckt werden.
Was war das auslösende Moment, einen Film zu diesem Thema zu drehen?
Tristan Sindelgruber: Ich war Hauptschullehrer für Deutsch und Geschichte und hatte viel mit Zeitgeschichte zu tun. Es tauchte immer wieder das Problem auf, wie kann ich 14-Jährige noch mit Zeitgeschichte konfrontieren, wenn es kaum mehr ZeitzeugInnen in den Familien gibt. Im Unterricht stellte sich also die Frage, wie kann ich's vermitteln. Wir hatten schon an einem Projekt über Auschwitz gearbeitet. Da gab es einen kurzen Film über Hartheim, der bei den Kindern wie eine Art Schalter wirkte. Denn plötzlich war es ihre Altersstufe, die vom NS-Regime betroffen wurde. Das schien mir spannend, um für Jugendliche einen Einstieg ins Thema zu finden.
Der zweite Punkt ist das Thema Gross und der Umstand, dass sich so lange nichts getan hat.
AS: Die Idee von einem Film haben wir beide gleichzeitig entwickelt. Ich machte zu dem Zeitpunkt mit Jugendlichen im 20. Bezirk Streetwork. Mein Zugang war, wenn auch im außerschulischen Bereich der gleiche. Ich arbeitete mit Jugendlichen in Gemeindebauten, die sich sehr interessierten, aber kein Gegenüber hatten, um das Thema zu diskutieren. Ich hab mich zwar immer mit Zeitgeschichte befasst, nicht aber tiefer mit NS-Euthanasie. Dieses Thema bedeutet für mich so eine Grenzüberschreitung.
Jüngere Geschichte wird zwar fast schon inflationär bearbeitet, oft jedoch nicht wirklich in die Tiefe gehend. Das Thema Spiegelgrund ist für mich so ein Paradebeispiel für den Umgang mit Betroffenen nach 1945.
Ich nehme an, bei einem Filmprojekt zu so einem tabuisierten Thema standen nicht von vornherein alle Türen offen.
AS: Wir bekamen von verschiedenen Stellen sehr viel Unterstützung. Es war leicht, für das Anstaltsgelände eine Drehgenehmigung zu bekommen. Als die Voruntersuchungen gegen Gross begannen, wurde es schwierig, den 1989 eingerichteten Gedenkraum zu filmen.
Auf Probleme mit der österreichischen Bürokratie stösst man scheinbar dann, wenn man aus Österreich ist. Niemand ist verantwortlich, alle schieben den Ball im Kreis weiter. Ein Spiel, das erst durchbrochen wird durch einen Satz wie "wir sind mit Hamburg im Kontakt". Wenn das Stichwort "international" fällt, dann geht es meistens flott. Affären wie die um Gross kommen oft dadurch ins Rollen, dass sich ausländische Medien melden. Das, was sich im Land tut, wird weniger ernst genommen.
Wie lange dauerte die Arbeit am Projekt?
TS: Das Glück für uns war, dass es schon eine große Menge an Recherchematerial gegeben hat, das uns ein Journalist zur Verfügung stellte. Die Zeit können wir gar nicht abschätzen. Wir haben im November 1998 konkret an die Umsetzung gedacht, im Dezember 1999 war der Film abgeschlossen.
Über Monate sah unser Alltag so aus, dass wir am Vormittag versuchten, offizielle Stellen wegen der Finanzierung zu erweichen, am Nachmittag technisch oder inhaltlich am Projekt arbeiteten und zu später Stunde oft mit den Sorgen und Ängsten derer konfrontiert waren, die mit uns für den Film arbeiteten. Es ging rund um die Uhr.
Welchen Bereich der Baumgartner Höhe umfasst der Spiegelgrund?
AS: Der Spiegelgrund das waren einerseits ein Erziehungsheim, das eine Zeitlang Wiener Städtische Jugendfürsorgeanstalt hieß und mehrere Pavillons umfasste, und eine sogenannte Heil- und Pflegeanstalt, die in den Pavillons 15 und 17 untergebracht war.
Wer wurde interniert?
AS: Die Anstaltsbücher sind sehr spät aufgetaucht. Es handelte sich in erster Linie um verschiedenste Jugendliche, die nicht ins System gepasst haben, aus welchen Gründen auch immer. Weil sie Rachitis hatten, sozial nicht angepasst waren oder die Eltern politisch aufgefallen sind. Geistige und körperliche Behinderung ist immer eine Definition der jeweiligen Zeit.
In die Pavillons 15 und 17 der Heil-und Pflegeanstalt wurden eher die Kinder hingebracht, von denen das Regime meinte, sie seien nicht mehr in das System integrierbar, d.h. letztendlich nicht arbeitsfähig. Das dürften dann jene Kinder und Jugendlichen gewesen sein, die für medizinische Versuche missbraucht wurden.
TS: Das Töten wurde im Laufe der Zeit immer grenzenloser. Die Anstalten wurden auch mit behinderten Menschen in Betrieb gehalten, um sie im Bedarfsfall als Spitäler für die Zivilbevölkerung umzufunktionieren. Auf diese Weise gelangten die Hamburger Frauen und Mädchen nach Wien. Hamburg wurde von den Alliierten sehr früh bombardiert, die Anstaltsinsassen wurden sofort rausgeschmissen und deportiert.
War es nach dem Krieg schwierig, nachzuweisen, dass es sich um eine geplante und systematische Vernichtung gehandelt hat.
AS: Nicht dass es so schwierig gewesen wäre, damals gab es mehr Krankengeschichten als heute, man hätte auch sehr viel mit Zeugenaussagen machen können. In den ersten Jahren nach 1945 war noch der Wille da, die Verantwortlichen zu strafen. Es gab so viel Material, dass man es nicht bewältigen konnte und später wollte man nicht mehr.
Wer wurde unmittelbar nachher zur Verantwortung gezogen.
TS: Was den Spiegelgrund betrifft, waren es der Anstaltsleiter, eine Ärztin sowie eine Krankenschwester. Danach schlief die Aufarbeitung ein und es gab einen enormen Aktenschwund.
Wie sieht es mit der eigenen psychischen Befindlichkeit im Laufe eines solchen Projektes aus
AS: Der Gedenkraum ist ein gutes Beispiel. Solange ich filmte, war die Kamera in gewisser Weise als Schutz dazwischen, ich wollte mir auch nicht den Kopf darüber zerbrechen, was ich da jetzt filme. Als ich es mir dann einige Stunden später am Monitor anschaute, musste ich rausgehen, weil ich es nicht aushielt. Es ist schlimm, was man da sieht, wenn man aber die Geschichten von den Leuten hört, die noch leben, ist das noch einmal eine andere Ebene. So lange wir in der Arbeit drin steckten, mussten wir uns konzentrieren. Wir wollten einfach einen guten Film machen, der einen Längsschnitt durch die Geschichte bis in die Gegenwart macht. Das war eine große Verantwortung den Überlebenden gegenüber. Der Druck war so groß, so dass für unsere Befindlichkeit kein Platz war.
Das filmische Konzept ist eine Abfolge von Zeugenaussagen und wissenschaftlichen Statements, dazwischen kehren immer wieder lange Einstellungen auf die Pavillons, sozusagen die stummen Zeitzeugen.
TS: die Außenaufnahmen von der Baumgartner Höhe sind das Verbindende der Gesamtgeschichte, alles führt an diesen Ort zurück und gleichzeitig gibt es einen Längsschnitt von Anfang der vierziger Jahre bis in die Gegenwart. Oft kommen ja sehr starke Aussagen von den Betroffenen und wir wollten nicht bruchlos zur nächsten Sequenz übergehen, sondern auch dem Betrachter einen Platz der Reflexion überlassen.
Zu Beginn wollten wir keinen gesprochenen Kommentar. Die, die vorkommen, sollten die Geschichte alleine erzählen. Das wäre aber zu schwierig gewesen.
Wie erfolgte die Auswahl der Gesprächspartner?
AS: zum Zeitpunkt, als wir uns an die filmische Umsetzung machten, gab es nur zwei Personen, die offen sagten, dass sie als Kinder am Spiegelgrund waren. Alois Kaufmann, der auch ein Buch geschrieben hat, und Friedrich Zawrel. Ein befreundeter Historiker stellte den Kontakt zu Alois Kaufmann her, da wir nicht direkt die Leute gewissermaßen bedrängen wollten. Er war sofort bereit. Er ist jemand, dessen Alltag von früh bis spät vom Spiegelgrund bestimmt ist. Jede Diskussion, jede Begebenheit erinnert ihn, endet für ihn am Spiegelgrund. Mit dem Herrn Roggenthien kamen wir über Antje Kosemund in Kontakt. Für ihn war es auch der erste Medienkontakt.
Welche Rolle kommt den Wissenschaftlern in der Dokumentation zu?
TS: Wir wollten, dass Fachmenschen zusätzliche Informationen zu einem Thema bringen, das noch kaum beleuchtet worden ist und die Betroffenen davon entlasten, Faktenwissen mitzuteilen. Es sollte aber nicht so sein, dass erst die Experten die Aussagen der Betroffenen legitimieren. Davon ist ja ihr Leidensweg nach 1945 geprägt, dass sie etwas nachweisen müssen. Sie legen dir auch gleich eine Mappe auf den Tisch, wenn du mit ihnen ein Gespräch beginnst, weil sie immer das Gefühl haben, etwas beweisen zu müssen.
Ist Gross als Gesprächspartner bewusst ausgespart.
AS: Er ist mit Absicht ausgespart. Wir wollten ganz bewusst die andere Seite zu Wort kommen lassen wollten. Es ist schade, dass immer nur er in den Medien ist. Die Leute wissen nicht, was der Spiegelgrund ist, jedoch sagt ihnen der Name Gross etwas. Es ist schon gut, dass er in den Medien ist, es wäre auch gut gewesen, wenn es einen Prozess gegeben hätte, aber dass man die Betroffenen dann wieder so allein lässt, das ist die andere Sache.
TS: Gross interessiert mich nicht als Person, sondern als Symbol für den Umgang mit dem Thema nach 1945.
Das heißt die Causa Gross ist nicht das Kernthema dieser Dokumentation?
AS: Was mich wesentlich mehr interessierte war die Frage, wie hat das überhaupt passieren können, wer hat das ganze System ermöglicht. Das beginnt bei Hebammen, Ärzten, Amtsärzten, Lehrern, Fürsorgern, die diese Kinder gemeldet haben. Leute, die am Schreibtisch gesessen sind, Formulare ausgefüllt haben, die das erst ermöglicht haben. Das Thema der Mitschuld und der Mitläufer und Überhaupt die Frage der Verantwortung.
Könnt ihr kurz die Zeit nach Dezember 1999, d.h. nach Fertigstellung des Films umreißen?
TS: Der Prozess ist am 21. März eröffnet und nach einer Stunde geschlossen worden, da Gross sich für verhandlungsunfähig erklärt hat. Der Richter hat dann zwei Gutachten in Auftrag gegeben, die beide sagen, dass er nicht verhandlungsfähig ist. Der Richter hat aber am 21. März auch gesagt, er würde sich innerhalb von sechs Monaten selbst noch einmal ein Bild machen und spätestens dann entscheiden, ob das Verfahren geschlossen oder wieder aufgenommen wird. Die sechs Monate sind längst vorbei und es geschieht wieder nichts.
Andererseits ist es so, dass er einen recht umtriebigen Rechtsanwalt hat, der versucht, möglichst viele Prozesse anzustrengen, wenn es darum geht, wie diese Causa medial verarbeitet wird. Bei unserem Film konnte man zwar nichts "beanstanden", aber sie haben versucht, die Ankündigung der Kinopremiere in der Zeitung "Die Presse" zu klagen, schließlich aber einen Rückzieher gemacht.
Hat sich im Zuge der Entschädigungszahlungen durch den österreichischen Staat etwas für die Opfer vom Spiegelgrund getan?
TS: In dem Punkt, dass die Überlebenden des Erziehungsheims als Gruppe an sich keinen Anspruch auf Aufnahme in das Opferfürsorgegesetz hatten, hat sich nichts geändert. Sie müssten sich von selbst melden und würden dann, wenn es ihnen gelingt, sämtliche Nachweise zu erbringen, im Einzelfall anerkannt werden.
AS: Eine andere rechtliche Konstruktion ist zur Zeit nicht möglich, es wird am Einzelfall entschieden. Die Überlebenden des Spiegelgrunds gehören zur großen diffusen Gruppe der sogenannten Asozialen, die bis heute das Problem hat, anerkannt zu werden.
TS: Die sterblichen Überreste sind nach wie vor nicht bestattet. Die sind nach wie vor in diesem Gedenkraum, der jetzt nicht mehr öffentlich zugänglich ist. Das hängt angeblich damit zusammen, dass die Gerichtsmedizin einen Teil der sterblichen Überreste beschlagnahmt hat, um zu überprüfen, ob da Giftspuren vorhanden sind. Woraus sie dann schließen wollen, wer das Gift verabreicht hat, ist mir nicht klar, dadurch steht aber das Ganze und es kommt auch nicht zur geplanten Beerdigung am Zentralfriedhof, wo auch schon angeblich ein Bereich reserviert worden ist und angeblich gibt es auch schon einen fertiggestellten Gedenkstein.
Habt ihr das Gefühl, euer Publikum erreicht zu haben?
AS: Ich glaube, man erreicht nie das ganze Publikum, das man erreichen will. Was mich besonders freut, ist, dass sehr viele Schulklassen in den Kinos Sondervorstellungen gebucht haben. Das freut mich besonders, dass Jugendliche gekommen sind, die sich so etwas nie anschauen würden.
Im regulären Kino ist er für einen österreichischen Dokumentarfilm mit einem derart sperrigen Thema sehr gut gelaufen. Ich hätte mir gewünscht, dass es mehr in die Bundesländer kommt. Das war aber auch eine technische Frage, weil das Trägermaterial nicht auf Film ist.
TS: Es gibt Gespräche mit 3-SAT, wo uns ein Ankauf zugesichert wurde, nun interessiert sich auch der ORF dafür. Die Sache zieht sich aber in die Länge und fixiert ist noch nichts. Mit ausländischen Sendern funktioniert das reibungsloser.
Wie groß war das Budget für Spiegelgrund
AS: Das Budget insgesamt, bis es zur Untertitelung gekommen ist, wo es dann eine Verwertungsförderung gab, bis dahin waren es ca. öS 600.000.-, wobei ich für das Projekt von der ÖSB (Österreichische Studien- und Beratungsgesellschaft) auf ein Jahr unterstützt wurde.
Dokumentarfilme wie dieser werden es aber in Zukunft viel schwieriger haben, weil das Budget der BKA Filmsektion, von der wir Unterstützung erhielten, massiv gekürzt wurde. Gerade Leute, die nicht bekannt sind und noch dazu einen Dokumentarfilm machen, werden in Zukunft noch weniger Chancen haben, ihr Projekt zu verwirklichen.
Dennoch richtet ihr ein neues Büro ein, das klingt nach neuen Projekten.
TS: Der Nationalfond der österreichischen Republik, 1995 gegründet, ist die erste öffentliche Stelle, die die Überlebenden des Spiegelgrunds als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt hat, die Leute haben als symbolische Geste je 70.000,- öS bekommen. Diese Stelle will nun aufgrund des Films mit uns zusammenarbeiten. Wir haben jetzt die Möglichkeit, eine Interviewreihe mit Überlebenden des Nationalsozialismus zu machen, die bis heute nicht als Opfer anerkannt wurden. Lebensgeschichtliche Interviews, wo die Leute nicht nur die Erlebnisse während des Nationalsozialismus erzählen können, sondern auch das, was danach kam.
Tristan: wir werden aber nicht nur einer Zeit verhaftet bleiben, sondern möchten dazwischen auch etwas Aktuelles machen.
Zu gesellschaftskritischen Themen?
TS: Ja, anecken immer.
(c) 2001 Austrian Film Commission